Das Wort, das verloren gegangen

Vortrag von Pir-o-Murshid Inayat Kahn, 1882-1927
Text übersetzt von Nuria Karthaus, überarbeitet von Waliha Cometti
Universeller Gottesdienst vom 8.4.2001 in Zürich.


Im Orient wird folgende sehr alte Geschichte erzählt: "Es war einst eine altertümliche Mauer, die Mauer des Geheimnisses genannt. Die Überlieferung berichtet: wenn es jemandem gelang, diese Mauer zu erklimmen und auf die andere Seite zu blicken, so lächelte der Betreffende, und anstatt wieder hinunter zu steigen, schwang er sich auf die andere Seite, um nie wieder zurück zu kehren. Nun wurden die Bewohner jenes Landes neugierig und wollten erfahren, was wohl für ein Geheimnis hinter jener Mauer sei. Sie trafen Vorbereitungen, um den Nächsten, der wiederum die Mauer erklettern und hinüberblicken wollte festzuhalten, um ihn in dem Moment, wenn er sich über die Mauer schwingen würde, zurückzuhalten.

Als nun eines Tages wieder einer die Mauer erklettern wollte, um auf die andere Seite zu schauen, legten sie ihm Ketten an seine Füsse, damit er ihnen nicht über den Wall entschlüpfen könne. Als der oben Angekommene auf die andere Seite schaute, lächelte er voller Entzüken. Die Untenstehenden zogen ihn voller Neugier zurück und wollten erfahren, was er gesehen hatte, aber sie wurden sehr enttäuscht, denn der Zuruckgekehrte hatte die Sprache verloren."

Das Geheimnis des ewigen Lebens hat eine grosse Anziehungskraft. Alle sind neugierig danach, aber sobald man das Mysterium des Lebens erklären will, gelangt man an die Grenze des Sagbaren, Worte sind unzulänglich. Für dieses Verstummen, für dieses Schweigen gibt es mancherlei Gründe. Der erste aber ist der, dass der Mensch, der auf die andere Seite der Mauer hat sehen können, nachher das Gefühl hat, als lebe er unter Kindern. Demjenigen, der auf die andere Seite geschaut hat, dem scheint alles Diesseitige, das von den Menschen so hoch geschätzt wird, wertlos; denn für ihn ist Wahrheit und Tatsache zweierlei geworden, während sonst für jedermann Wahrheit und Tatsache einerlei ist.

Die Anhänger von verschiedenen Religionen und Glaubensbekenntnisse disputieren, argumentieren und streiten. Tun sie dies im Erkennen der Wahrheit? Oh nein. Alle die Differenzen und Dispute werden durch die mannigfaltigen Tatsachen, die voneinander verschieden sind, verursacht.

Es gibt viele Tatsachen, aber nur eine Wahrheit. An unserm Himmel sind viele Sterne, aber nur eine Sonne. Wenn die Sonne aufgestiegen ist, so erblassen die Sterne, und für denjenigen, vor dem die Sonne der Wahrheit aufgegangen ist, für den haben Tatsachen nur wenig Unterschiede. Das Licht der Wahrheit, das auf die Tatsache fällt, macht sie verblassen und verschwinden.

Der Unterschied zwischen Wissenschaft und Mystik ist sehr gering. Der Unterschied ist nur der, dass die eine so und so weit geht, die andere aber noch weiter. Der Wissenschafter, der von einem materiellen Standpunkt aus, bis zu einer gewissen Grenze die Idee der Schöpfung betrachtet, geht nun so weit, dass er erkennt: es gibt Elemente, die schöpferisch tätig sind, und wenn er weiter analysiert so kommt er auf Moleküle, auf Atome, auf Elektronen und schliessslich zu den Vibrationen. An diesem Punkte aber steht er still. Er sagt, dass die Grundlage Trieb und Bewegung sein muss, und die feinste Bewegung wird Schwingung, Vibration genannt.

Was nun die Mystik anbetrifft, sagt schon die Vedanta, die mystische Wissenschaft früherer Jahrtausende: "Nada-Brahma" Ton-Gott , oder: die Vibrationen sind das Schöpferische an Gott.

Das unterscheidet sich nicht mehr von dem, was die moderne Wissenschaft sagt, nämlich, dass die Triebkraft die Grundlage der Schöpfung sei. In der Bibel finden wir den Satz: "Im Anfang war das Wort und das Wort war Gott". Im Koran steht: "Kaunfa u Kun", was heisst: als das Wort sich offenbarte, entstand Die Schöpfung.

Wenn man die Gleichartigkeit zwischen der Wissenschaft und der Eingebung der Mystiker alter Zeiten konstatiert hat, so muss man dem Spruch Salomons zustimmen: "es gibt nichts Neues unter der Sonne". Der Unterschied ist der, dass die Mystiker nicht haltmachten bei dem, was man Bewegung oder Schwingung nennt, sondern, dass sie der Quelle nachspürten, dem göttlichen Geist.

Das, was existierte, ehe Die Schöpfung war, ist nach der Auffassung der Mystiker das "Vollkommene Sein". Vollkommen, nicht im wörtlichen Sinn, sondern im geistigen Sinn. In der Umgangssprache bezeichnen wir manches als vollkommen, das noch beschränkt ist, aber geistige Deutung der Vollkommenheit steht über allen Worten. Unter göttlicher Vollkommenheit versteht der Mystiker die Vollkommenheit der Schönheit, der Weisheit, der Kraft, die Vollkommenheit der Liebe und des Friedens.

Aber gleichzeitig muss, wo Augen sind, etwas zu sehen, ein Gegenstand da sein, um ihn zu bewundern, auf dass die Lebensaufgabe der Augen sich erfülle. Und wo Ohren sind, muss es Töne geben, damit sie gehört und in ihrer Schönheit gewürdigt werden können. Das ist die Erfüllung ihres Daseins. Darum war es nötig, dass das vollkommene Sein, um die eigene Vollkommenheit zu realisieren, eine abgegrenzte Vollkommenheit schuf, und dies wurde dadurch vollbracht, dass das Eine Sein sich spaltete in drei Aspekte: in den Seher, in das Sehvermögen und in das Gesehene, das Geschaute. Das ist das Geheimnis der Trinität, der Dreieinigkeit.

Es ist die Arbeit des Biologen die Einzelheiten - die stufenweise Entwicklung der Schöpfung - zu erklären; aber im Umriss stellen die Mystiker aller Zeiten fest, dass zuerst das Mineralreich da war, dann das Pflanzenreich, dann das Tierreich und dann der Mensch, dass aber durch all diese Entwicklungsvorgange eine bestimmte Absicht zu erkennen ist, die die Schöpfung immer weiter fährt, zur Erfüllung von etwas Bestimmtem. Wenn der Seher den Entwicklungsvorgang studiert, der sich im Mineral- Pflanzen- und Tierreich und im Bereich des Menschen vollzieht, - so erkennt er, dass da stets etwas fehlte, und dass das Fehlende nach und nach, mit dem Fortschreiten der Entwicklung in Erscheinung trat. Und was war es, das gefehlt hatte?

Es ist die Ausdrucksfähigkeit und das Wahrnehmungsvermögen, es ist dasjenige, das die Mystiker mit dem symbolischen Ausdruck bezeichnet haben: "Das Wort, das verloren gegangen". Und was veranlasste sie zu sagen, das Wort sei verloren gegangen? Es ist dies: das Wort war im Anfang, da war Bewegung, Vibration, da war die Bewusstheit des vollkommenen Seins. Die Felsen waren nicht erstanden, ehe Vibration, ehe die Schwingungen sich manifestierten.(Die Schwingungen waren das Erste, die Vorbedingungen für die Felsen.) Nur ist der Unterschied zwischen dem wissenschaftlichen Standpunkt und dem des Mystikers der: der Wissenschafter erklärt: aus dem Felsen entwickelte sich stufenweise (durch Evolution)  die Vernunft, während der Mystiker: nein, das Gestein ist eine Stufe der Vernunft; erst war die Vernunft, das Gestein kam nachher.

Der ganze Offenbarungsvorgang weist darauf hin, dass auf ein Ziel hingearbeitet wird und zwar auf ein und das selbe. Wohl kann dies von zwei Gesichtspunkten aus betrachtet werden. Von dem einen aus sieht man, dass der Berg eines Tages zum Vulkan wird, oder dass ein Baum Früchte trägt und dass damit deren Aufgabe erfüllt ist. Aber von einem andern Standpunkt aus sieht man, dass Steine, Bäume, Tiere und Menschen, alle nach einem Ziel streben, und dass der ganze Schöpfungsverlauf darauf hin arbeitet, dasselbe tut. Und was ist dieses Ziel, dem die ganze Schöpfung zustrebt?
Was ist es, worauf die stummen Berge der Einöde warten? Was ist es, worauf die Wälder harren? Was ist es, was die Tiere, ausser ihrer Nahrung, suchen? Was ist es, das jeder menschlichen Handlung Wichtigkeit verleiht und das nach deren Vollzug den Menschen wieder zu neuer Tätigkeit anregt?
Es ist ein Ziel, doch ein Ziel, das unter vielen Formen verborgen ist. Es ist das Suchen nach dem Wort, das verloren gegangen.

Je höher hinauf sich die Schöpfung entwickelt, um so grösser ist das Verlangen, dies Wort zu hören. Aber wie es eine stufenweise Entwicklung ist, die vom Mineral zum Menschen führt, so ist es auch ein stufenweiser Vorgang, der von einem menschlichen Entwicklungszustand zum Zustand der Vollkommenheit führt.

Was ist es, das dem Menschen das Sehnen nach einem Wort der Anerkennung, der Bewunderung gibt und das ihn befriedigt?
Was ist es, das ihm Freude bereitet, wenn er die Stimme, die liebevollen Worte eines Freundes hört? Was ist es, das ihn in der Musik, in der Poesie so tief ergreift? Immer ist es "das Wort, das verloren gegangen", das in verschiedenen Formen zum Ausdruck kommt.

Es scheint, dass die Schöpfung am Anfang der Manifestation, des materiellen Werdens, stumm und taub sei. Wer fühlt das Schmerzliche des Stumm- und Taubseins? Es ist der Geist der Vollkommen-heit, der in Wahrnehmung und Ausdruck einst vollkommen war.

Der grosse Dichter Jelal-uddin Rumi drückt dies in seinem Masnevi folgendermassen aus: er vergleicht die Seele mit einem Vogel, der in einen Käfig gesperrt, seiner Freude und seiner Freiheit beraubt ist. Es ist dies die Erklärung der allgemeinen Lebenstragödie. Obwohl jede Seele dem Leid begegnet, wird dessen Ursache doch immer wieder anders erklärt, und doch ist hinter den verschiedenen Ursachen des Leidens nur eine einzige, und zwar das Gefangensein der Seele, anders ausgedrückt: "das Wort, das verloren gegangen".

Auf all ihren verschiedenen Entwicklungsstufen suchen die Seelen nach "dem Wort, das verloren gegangen", je nach der Art, wie sie das Suchen gewohnt sind. Und es sind auch Wege dafür gebaut worden, gute Wege und falsche Wege, sündhafte und tugendhafte. Darum ist der Weise so duldsam allen gegenüber, denn er sieht, dass jede Seele ihrem eigenen Weg folgen, ihre eigenen Aufgabe zu erfüllen hat. Aber in der Erfüllung dieser Aufgaben liegt ein Zweck: "das Wort, das verloren gegangen" wieder zu finden.

Doch es wird keine Seele Befriedigung finden, ehe sie nicht zu der Vollkommenheit gelangt, von der in der Bibel gesagt ist: seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist". Das will sagen, dass der Geist Gottes selbst durch verschiedene Phasen der Manifestation gegangen ist, um in der dichtstofflichen Erdensphäre seine Vollkommenheit im erleuchteten Menschen zu verwirklichen.

Welche Erklärung kann von dieser Vollkommenheit gegeben werden? Was ist sie? Welcher Art ist ihr Erleben? Dies ist etwas, das Worte nie zu erklären vermögen, ausser vielleicht, dass man sagt:
die Augen der Seele werden geöffnet, und das "verloren gegangene Wort" erklingt von allen Seiten ans Ohr der Seele. Dichter des Orients haben dies in prächtigen Bildern beschrieben, in Erzählungen von Rama und Sita. Die Glückseligkeit dieses Geschehens haben sie dargestellt als einen Liebhaber, der seine verlorene Geliebte nach langem Suchen wieder fand. Kein Gleichnis kann diese Idee besser wiedergeben, als das Bild eines Menschen, der seine Seele verloren hatte und wieder fand.

Weisheit ist eine Form, in welcher verständnisvolle Seelen die Welt und das Leben und sich selbst erkennen und zu durchschauen suchen. Weisheit wird im Griechischen "Sophia" und im Persischen "Sufi" genannt. Weisheit ist die Lebensauffassung eines Menschen, dessen Gesichtspunkt sich gewandelt hat, durch die Betrachtung des Lebens im Lichte der göttlichen Sonne.

Was ist also Sufismus?
Sufismus ist Weisheit. Bei jedem Schritt auf dem Lebenspfade weiser zu werden, ist die einzige Aufgabe des Sufi.
Erleuchtete Sufi-Meister aller Zeiten haben Schüler in das Geheimnis der Esoterik eingeweiht, auf dass ihr inneres Auge sehend und ihr inneres Ohr höhrend werde; sie haben sie gelehrt, sich versenkend, tief in das innere Leben einzutauchen.

Nun kann man fragen: warum braucht es dazu einen Lehrer?
Kann nicht der suchende Mensch allein zum Urquell zurück finden?
Gewiss ist es auch einem Fremdling möglich, mit etwas Glück, in einer unbekannten Stadt einen bestimmten Platzt, den er sucht, zu finden. Wenn ihm aber ein Stadtkundiger den Weg weist, gelangt er schneller, ohne Gefahr und ohne Umwege und Irrwege ans Ziel.

Darum ist der Sufiorden bestrebt, Erkenntnisse zu vermitteln, um das im Menschen verhüllte Licht und die in ihm schlummernden Kraft, das Geheimnis aller Religionen, die Macht der Mystik und den Wesenskern der Philosophie zu erschliessen, damit seine Seele "das Wort, das verloren gegangen" wieder finde.



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